Deutschland will Ende dieses Jahres die letzten Atommeiler stilllegen, bis 2030 soll der Ausstieg aus der Kohleverstromung vollzogen werden. Angesichts des Kriegs in der Ukraine und der hohen Abhängigkeit der hiesigen Energieversorgung von russischem Gas raten einige Politiker und Wirtschaftsexperten nun dazu, die Ausstiegspläne zu überdenken.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck äußerte in einer ersten Stellungnahme gegenüber der ARD, er halte Atom- und Kohlestrom prinzipiell für ungeeignet, um etwaige Versorgungsengpässe durch einen Gaslieferstopp Russlands auszugleichen. Trotzdem gebe es diesbezüglich "keine Denktabus".
Habeck mit Blick auf die Kohlekraft: "Länger laufen lassen heißt längere Abhängigkeit von Steinkohle aus Russland." Einen Weiterbetrieb von Kernkraftwerken würde er "nicht ideologisch abwehren", sagt Habeck, stellt aber klar: "Für den Winter 2022/23 würde uns die Atomkraft nicht helfen." Ohnehin könnten die verbliebenen AKW "nur unter höchsten Sicherheitsbedenken und möglicherweise mit noch nicht gesicherten Brennstoffzulieferungen" weiter betrieben werden. "Und das wollen wir sicher nicht", so der Minister.
In verschiedenen Medien hatten zuvor sowohl Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff als auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer angeregt, den vorgezogenen Ausstieg aus der Kohlekraft vor dem Hintergrund der aktuellen weltpolitischen Lage neu zu bewerten. Nordrhein-Westfalens Wirtschafts- und Energieminister Andreas Pinkwart hat seine Länderkollegen für heute zu einer Sondersitzung eingeladen, die Deutschlands Versorgungssicherheit thematisieren soll.
Clemens Fuest, Chef des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung spricht sich im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung dafür aus, die noch im Betrieb befindlichen deutschen Atomkraftwerke nicht vom Netz zu nehmen "bis die Abhängigkeit von russischem Erdgas überwunden ist, also voraussichtlich mehrere Jahre." Aktuell sind noch drei deutsche Kernkraftwerksblöcke in Betrieb: Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2. Sie sollen bis Ende des Jahres stillgelegt werden.
Fuest hält seinen Vorschlag auch aus klimapolitischer Sicht für sinnvoll: "Wenn die aktuelle Krise dazu führt, dass wir den Atomausstieg verschieben und erneuerbare Energien schneller ausbauen, könnte das sogar die Chance erhöhen, dass wir die Klimaziele erreichen."
Ricarda Lang, Bundesvorsitzende der Grünen, legt einen anderen Schwerpunkt und fordert im Interview mit der Funke-Mediengruppe, Deutschland müsse "jetzt alle Kraftanstrengung nutzen, den Ausbau der erneuerbaren Energien und die Unabhängigkeit von fossiler Energie ohne weitere Verzögerung konsequent anzugehen." Oliver Krischer, Parlamentarischer Staatssekretär im Klimaministerium teilt diesbezüglich mit, dass man ab 2035 eine Vollversorgung mit Ökostrom anstrebe: "Das nützt nicht nur dem Klimaschutz, sondern macht uns unabhängig von Putins Gas, Öl und Kohle." Zuvor hatte bereits Finanzminister Christian Lindner im Bundestag betont: "Erneuerbare Energien sind Freiheitsenergien."
Björn Katz, Redaktion StromAuskunft.de